Mehr als nur die Matte …
Pilates ist ein ganzheitliches oder holistisches Training.
Die meisten kennen Pilates auf der Matte – viele denken, es sei vergleichbar mit Yoga (und einige Übungen haben auch Ähnlichkeit) … aber die wenigsten wissen, dass zum Pilates Training auch Geräte gehören.
Nicht nur die kleinen Geräte, wie Stöcke, Bälle, Bänder oder der Magic Circle, sondern auch die großen Geräte , die Joseph Pilates Anfang der 1920er Jahre entwickelte und auch patentieren ließ.
Er sprach sehr bewußt von Geräten im Gegensatz zu Maschinen.
Der Definition nach ist eine Maschine eine mechanische, aus beweglichen Teilen bestehende Vorrichtung, die Kraft oder Energie überträgt und mit deren Hilfe bestimmte Arbeiten unter Einsparung menschlicher Arbeitskraft ausgeführt werden können.
Ein Gerät hingegen ist ein (beweglicher) Gegenstand, mit dessen Hilfe etwas bearbeitet, bewirkt oder hergestellt werden kann.
Im Gegensatz zur Maschine, die uns die (körperliche) Arbeit erleichtert, hilft uns das (Pilates)Gerät unseren Körper zu „bearbeiten“, bewirkt stärkere Muskelkraft und größere Mobilität/Flexibilität und stellt somit die Gesundheit des Körpers wieder her … denn nichts Anderes beschreibt Joseph Pilates in seinem Buch „Return to Life through Contrology“.
Das Gerät nimmt uns also nicht die Arbeit ab und erleichtert sie, sondern mit seiner Hilfe „erweitern“ wir die „Arbeit“ unseres Körpers.
Wir werden sozusagen Teil des Gerätes. Indem wir mit und gegen die Federn arbeiten, gibt es uns Rückmeldung über die Muskulatur, die involviert ist … oder sein sollte.
Unsere Körperwahrnehmung wird auf einzigartige Weise erhöht und gestärkt.
Und das wiederum hilft uns Bewegungsabläufe zu kontrollieren und zu verbessern.
Und genau aus diesem Grund erfand Pilates alle seine Geräte. Es ging ihm immer um die Heilung und Verbesserung des Körpers, der vor ihm stand. Zum Teil gaben ihm die körperlichen Einschränkungen seiner Klienten auch den Anstoß bestimmte Geräte überhaupt erst zu entwickeln.
Das erste Gerät, dass Joseph Pilates erfand, war der „Foot Corrector“.
Nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Füße das Fundament des gesamten Körpers sind und in der zivilisierten Welt sehr vernachlässigt werden:
・wir benutzen sie zu wenig, da wir seltener gehen und laufen
・und wenn wir gehen oder laufen, ziehen wir Schuhe an.
Die schützen zwar die Füße vor Dreck und Verletzungen, aber gleichzeitig verhindern sie auch, dass die Füße „richtig“ bewegt werden. Also, dass sie abrollen, die Zehen beugen und spreizen.
Und durch den Mangel an diesen Bewegungen, wird die intrinsische Muskulatur, also die Muskulatur, die innerhalb des Fußes ist, garnicht trainiert und die Sehnen der Beinmuskulatur (die im Fuß enden) werden immer kürzer.
Viele weitere Geräte folgten diesem ersten. Und immer gaben Pilates Beobachtungen des menschlichen Körpers, seiner Anatomie und auch seiner „Mechanik“ den Anstoß dazu.
Wie bewegt der Körper sich?
Welche Muskeln ermöglichen welche Bewegungen?
Wo sind die Zusammenhänge?
Und was ermöglicht, aber auch erleichtert das Zusammenspiel …
Die meisten Geräte hat er selber erfunden und gebaut. Und für diese hat er auch Patente.
Bei der Entwicklung einiger anderer Geräte hat er sich inspirieren lassen (z.B von Eugen Sandow) und für diese Geräte hat er keine Patente angemeldet.
Das erste große Gerät, das „Körperübungsgerät“, wie es im Patent heißt, hat er selber gebaut und im Laufe der Jahre immer wieder leicht verändert.
In seinem Studio in New York gab es mindestens drei davon, wie man auf Aufnahmen sehen kann und sie wurden von allen Klienten benutzt.
Hier erhielt es auch seinen bis heute gültigen Namen „Reformer“, der ungleich besser beschreibt, warum Pilates dieses Gerät erfand und im Studio regelmässig nutzte:
es trainiert den Körper nicht nur, sondern es reformiert ihn.
Und reformieren bedeutet verändern, verbessern, neu gestalten.
Es ist der Inhalt und das Ziel seiner Methode, wie er es auch in seinen beiden Büchern beschrieben hat. Es geht ihm nicht nur um Körperertüchtigung oder sportliche Bewegung, sondern um die korrigierende Kraft seiner Übungen.
Joseph Pilates kann man durchaus als Besessenen bezeichnen – obwohl er kein asketischer Weltverbesserer war. Im Gegenteil, er mochte Alkohol, Zigarren, Frauen.
Aber in seinem Studio und in Bezug auf seine Methode, die er Contrology nannte, war er akribisch und duldete keine Verwässerungen.
Es wurden die Übungen gemacht, die er vorgab und sie wurden so gemacht, wie er sie vorgab – keine Variationen oder Erleichterungen, keine Veränderungen der Reihenfolge.
Die Übungen, die er seinen Klienten gab, waren fordernd und fördernd und auch wenn sie schwer waren, waren sie machbar. Übungen, die zu schwer waren für den Klienten, wurden nicht gemacht … solange, bis der Klient stärker geworden war und neue Übungen in sein persönliches Programm integriert wurden.
Aus vielen Berichten seiner Klienten wissen wir, dass er ein strenger Lehrer war.
Einige liebten ihn, andere bevorzugten von Clara (Pilates Frau) unterrichtet zu werden.
Dies machte aber keinen Unterschied in der Methode, sondern ausschließlich im Umgang.
In seinen beiden Publikationen „Your Health“ (1934) und „Return to Life through Contrology“ (1945) wird seine Motivation, die körperliche Gesundheit aller Menschen zu verbessern ,mehr als deutlich. Überhaupt hat er diese beiden Bücher nicht zuletzt auch geschrieben, um auf die mangelnde körperliche Gesundheit der modernen Gesellschaft aufmerksam zu machen und zu zeigen, dass sein Übungs-System, seine Methode ein probates Mittel dagegen ist.
Immer wieder suchte er den Kontakt zu den Gesundheitsbehörden und auch zu Medizinern und Krankenhäusern, um seine Methode vorzustellen und zu bewerben. Nach der Dokumentation und Vorstellung des erfolgreichen Reha-Prozesses von Eve Gentry*, wurde ihm sogar ein Vertrag für die Reha-Abteilung angeboten, der leider nicht zu Stande kam.**
Mit diesem Wissen wird klar, dass seine Methode, das Pilates System, The Work, kein reines Matten Training ist, sondern, dass die Geräte ihren sehr sinnvollen Platz in diesem System haben.
Pilates trainieren ohne die Geräte, ist demnach ein sehr unvollständiges Pilates Training. Ausschließlich auf der Matte pilatieren macht einen sicherlich stärker, aber den korrigierenden Effekt der Übungen hat es nur sehr eingeschränkt.
Die Pilates Geräte machen das Training erst zum richtigen Pilates Training.
„Contrology develops the body uniformly, corrects wrong postures, restores physical vitality, invigorates the mind, and elevates the spirit“
„Contrology entwickelt den Körper gleichmäßig, korrigiert Fehlhaltungen, stellt die körperliche Vitalität wieder her, belebt den Verstand und hebt die Stimmung“
*Eve Gentry (Balletttänzerin, die seit 1942 regelmässig in Pilates Studio trainierte) musste sich nach einer Routineuntersuchung, bei der ein Knoten in ihrer Brust gefunden wurde, 1955 operieren lassen. Als sie aus der Narkose erwachte, hatte man ihr nicht nur eine Brust komplett entfernt, sonder auch den Musculus Pectoralis Major, den großen Brustmuskel, der für einen Großteil der Armbewegungen zuständig ist – Eve Gentry konnte ihren Arm kaum mehr anheben. Eine Katastrophe für eine Tänzerin. Ihre erste Anlaufstelle war Pilates und er nahm diese Herausforderung an. In diesem Fall musste er aber nun nicht einen Muskel stärken, dehnen oder wieder in Schwung bringen. Der pec major war weg und es mussten Wege gefunden werden, ihn zu ersetzen. Pilates suchte aus den Hunderten von Übungen, die er für seine Geräte erfunden hatte, die passenden für Eve Gentry heraus und entwickelte neue Bewegungsabfolgen. Er stellte Übungen zusammen, die darauf abzielten, die Muskeln um die Verletzung herum so zu stärken, dass sie die Aufgaben des großen Brustmuskels übernehmen konnten: der Körper sollte Alternativen finden, um schließlich wieder alle Bewegungen durchführen zu können. Sie trainierte regelmässig im Studio mit den verschiedenen Geräten und Pilates gab ihr ein „Ped-a-Pull“ für das Training zu Hause mit. Nach einem Jahr harter Arbeit hatte sie es geschafft: sie konnte sich wieder normal bewegen. Einige Ärzte, die auch im Studio trainierten, waren beeindruckt von dieser Rehabilitation, und empfahlen, einen Film zu drehen, um diese erfolgreiche Arbeit festzuhalten und anderen zu präsentieren. Eves Ehemann Bruce Gentry, ein Fotograph, filmte in 16mm und Schwarz-Weiß 18 Minuten lang, wie seine Frau, unter der Anleitung von Joseph Pilates, Übungen auf verschiedenen Pilates Geräten macht.
** Ein Krankenhaus, das nach neuen Methoden zur Rehabilitation von Bruskrebspatientinnen suchte, war interessiert. Aber nach Vorführung des Filmes wurde die Echtheit der Bilder bezweifelt und man hielt ihn für ein Fake. Bruce Gentry machte den gleichen Film ein zweites Mal. Dieses Mal filmte er Eve mit nacktem Oberkörper und die deutlich zu sehende Narbe, ließ keinen Zweifel an der Echtheit aufkommen. Nach der Vorführung dieses zweiten Films in dem selben Krankenhaus, waren die Ärzte tief beeindruckt und boten Pilates an, ein allgemeines Reha-Programm für Patienten nach Brustoperationen zu etablieren. Beim Aufsetzen des Vertrages fiel dann auf, dass Pilates keinen Titel, kein Medizinstudium, noch nicht mal eine Ausbildung zum Physiotherapeuten vorweisen konnte und so wurde das Vertragsangebot zurück gezogen.
Die Filmrollen liegen heute in der Tanzabteilung der New York Public Library im Lincoln Center for Performing Arts
* / ** aus: Eva Rincke „Joseph Pilates. Der Mann, dessen Name Programm wurde“ Herder Verlag 2.Auflage 2016 Seiten 192-197